Nachwort
Ein Fisch in einer
Flasche Schnaps
<<In meinem ersten
Lebensjahr fürchtete
ich mich vor
Fröschen, im zweiten
kam ich hinaus in
die 'Fremde'. In die
Schule kam ich mit
sieben. Als ich neun
war, packte mich
plötzlich die Lust
zu lesen; die zu
schreiben mit zehn.
Im dreizehnten
Lebensjahr lernte
ich Oktay Rifat, im
sechzehnten Melih
Cevdet kennen.
Siebzehn Jahre war
ich alt, als ich in
Bars ging. Mit
achtzehn fing ich
an, Raki zu trinken.
Von meinem
neunzehnten Jahr an
begann meine
Vagabundenzeit. Nach
meinem zwanzigsten
habe ich Geld
verdienen und Not
ertragen gelernt.
Einen Autounfall
hatte ich mit
fünfundzwanzig. Ich
war immer heftig
verliebt, aber
geheiratet habe ich
nicht. Jetzt bin ich
Soldat.>>
Hinzuzufügen bleibt
zu dieser einfachen
Lebensgeschichte des
türkischen Dichters
Orhan Veli, daß er
am 14. November 1950
mit 36 Jahren in
Istanbul nachts auf
offener Straße an
einer Gehirnblutung
starb. Dort, in der
Bosporusstadt, war
er 1914 auch
geboren.
In seinem kurzen
Leben konnte er
nicht mehr als 200
Gedichte schreiben.
Doch den Namen Orhan
Veli kennt heute in
der Türkei jeder
Schüler, und viele
seiner Gedichte und
Verszeilen sind bis
heute in aller
Munde.
Neben dem zwölf
Jahre älteren Nazim
Hikmet sorgte Orhan
Veli zusammen mit
den beiden in seiner
kurzen
Lebensgeschichte
erwähnten Freunden
Oktay Rifat und
Melih Cevdet für den
endgültigen
Durchbruch aus der
exklusiven Tradition
der höfischen
Diwan-Poesie zur
Moderne.
Auf dem in den
zwanziger und
dreißiger Jahren von
Nazim Hikmet
geebneten Weg
stellten sie sich
gegen die
überlieferten
Kriterien und
lyrischen
Auffassungen der
Tradition. Ihre
radikale,
revolutionäre
Ablehnung des
Vergangenen und
Bestehenden führte
zunächst zum totalen
Bruch mit aller
Tradition. Die
Gedichte, in denen
sich die neue
poetische Haltung
niederschlug, gaben
den damaligen
Literaturpäpsten
nicht nur Anlaß zu
überheblichem
Schmunzeln, sondern
auch Stoff zu
aufgeregten
Diskussionen. Grund
der Aufregung war
der Umstand, daß
plötzlich
Gedichtzeilen wie
<<Schade um Süleyman
Efendi>> oder <<Wäre
ich auch noch ein
Fisch in einer
Flasche Schnaps!>>
zum geflügelten Wort
wurden: Der
Tatbestand also, daß
das Gedicht vom
höfischen Himmel auf
die Straße geholt
wurde.
Orhan Veli
publizierte seine
ersten Gedichte etwa
um die Mitte der
dreißiger Jahre in
Literaturzeitschriften;
und zwar nach der
damals herrschenden
Mode in den
silbenzählenden
Metren der
türkischen
Volkslyrik-Tradition.
Diese ersten
Gedichte versprachen
zwar gute Aussichten
für Orhan Veli, doch
???ie waren mit
allem Ballast der
symbolisch-metaphorischen
Gefühlssprache
beladen. Veli merkte
das selbst und
wandte sich sehr
bald gegen alle
Tradition.
Der interessierte
Leser findet im
Anhang zu diesem
Nachwort fünf
Gedichte als
Beispiele aus der
noch
traditionsverbundenen
frühen Phase Orhan
Velis.
Nazim Hikmet hatte
den renommierten
Dichter Ahmet Haşim,
der höfische
Diwan-Metren mit
einer
archaisch-barocken
Kunstsprache und
tiefem Symbolismus
auszufellen
verstand, in seinen
Gedichten immer
wieder polemisch
attackiert, mit
<<Pikkönig>> oder
<<symbolistischem
Irren>> tituliert;
doch ging Hikmet in
seiner Radikalität
nie so weit, die
traditionellen
Formen und Elemente
des Gedichts total
abzulehnen. Vielmehr
ging es ihm um eine
neue Organisation
überlieferter und
moderner Mittel und
Formen im lyrischen
Sprachgebilde, um
neue Strukturen. Er
hat sich bewußt vor
allem der
Volkspoesie
zugewandt.
Anders bei Orhan
Veli und seinen
Freunden. Seine
radikale Ablehnung
alles dessen, was
bis dahin das
Gedicht ausmachte
und die öffentliche
Auffassung vom
Gedicht prägte,
zwang ihn, neue
Kriterien zu
entwickeln. Aber die
neue Ästhetik und
Poetik formulierte
er erst, als er
bereits konkrete
Beispiele geschaffen
hatte: Oft
epigrammatisch
kurze, einfache
Sprachgebilde, die
im Lesser den
Eindruck erweckten,
sie seien spontan in
einem Atemzug
hergesagt worden
(Fürs Vaterland
u.a.)
Ahmet Haşim, als der
prototypische
Vertreter des
<<Alten>> in der
Lyrik, mußte als
Zielscheibe nicht
nur Nazim Hikmets,
sondern auch des
jüngeren Orhan Veli
herhalten.
Vielleicht wurde er
von Velis Polemiken
empfindlicher
getroffen als von
Hikmets harten
Provokationen. Veli
bediente sich bei
seiner
Auseinandersetzung
und Abrechnung mit
der Tradition der
Parodie. Ein
bekanntes Gedicht
von Haşim war damals
Die Nelke:
Die Nelke
Von den Lippen der
Geliebten gebracht,
Ist diese Nelke ein
Flammentropfen.
Mein Herz spürt es
an ihrer Bitterkeit.
Da ringsumher von
ihrem wilden Duft
Wie erschlagen die
Schmetterlinge
fallen,
Ist auch mein Herz
ihr zum Falter
geworden.
Orhan Veli hat auf
dieses Gedicht eine
Replik mir gleichem
Titel geschrieben,
die Haşims
Anfangszeile
polemisch zitiert.
Hier zeigt sich
zugleich die Tiefe
des Bruchs und die
Subtilität, mit der
Veli sein Engagement
vortrug: Velis Nelke
datiert vom
September 1939;
Hitlers Armee hatte
schon Polen
überfallen:
Die Nelke
Sie haben recht, es
ist nicht so schön
Wie die Kunst der
Übertreibung,
Daß Tausende in
Warschau starben
Und daß eine
motorisierte Truppe
Einer Nelke nicht
gleicht,
<<Vom Munde der
Geliebten
gebracht>>.
Ähnlich parodiert
Veli in seinem
Gedicht Altes
Gerümpel Haşims
Gedicht Der Wunsch
am Ende eines Tages,
dessen letzte Zeile
mit dem
stimmungsgeladenen
Wunsch des Dichters
schließt:
Könnte ich dann ein
Schilfrohr sein in
den Seen!
Velis andersartiger
Wunsch in Altes
Gerümpel begründet
durch die irdische
Nähe zum einfachen
Mann zugleich sein
neues
Gedicht-Verständnis:
Wäre ich auch noch
ein Fisch in einer
Flasche Schnaps!
Befremden durch
natürliches Reden
Spätestens 1941
mußten sich auch die
hartnäckingsten
Vertreter der
lyrischen Redeweise
im Gedicht der
Hausforderung Orhan
Velis und seiner
Freunde stellen.
Glaubte man bis
dahin doch, solche
Zeilen seien keine
Gedichtverse sondern
jugendliche
Flegeleien einiger
Schwärmer - eine
Erscheinung, die
spurlos vorübergehen
würde.
Man hat sich in den
<<fremdartigen>>
Dichtern maßlos
getäuscht. 1941
erschien das Buch
Garip (Fremdartig)
mit Gedichten von
Orhan Veli, Melih
Cevdet Anday und
Oktay Rifat, das die
Lyrik-Szene
endgültig und
folgenschwer auf den
Kopf stellte. Das
von Orhan Veli
verfaßte Vorwort
hatte den Charakter
eines
poetologischästhetischen
Manifests. Auch das
war ein Novum in der
türkischen
Literatur. Denn
theoretische
Reflexionen der
Dichter über die
eigene Lyrik gehören
in der türkischen
Literaturgeschichte
zu den Ausnahmen.
Der gängigen
Auffassung von
Lyrik, die in
symbolisch
abgehobenes Reden
eingebettet zu
werden hatte,
stellten Orhan Veli
und seine Freunde
das alltägliche, das
natürliche Reden im
Gedicht entgegen und
riefen heftiges
Kopfschütteln
hervor. Das, was man
als Gedicht ausgab,
erfüllte keines der
gewohnten Kriterien
und befremdete dafür
umso stärker. Orhan
Veli hatte eine
Erklärung für dieses
Befremden:
<<Ihr Befremden
rührt daher, daß sie
das, was sie als
Gedicht
kennengelernt haben,
als natürlich
ansehen. Man muß
ihnen zeigen, daß
dies relativ ist,
damit sie am
Gelernten zweifeln
können.>>
Der Titel des
gemeinsamen Buchs
gab der neuen
Richtung den Namen:
Fremdartige
Dichtung. Was waren
die neuen Kriterienm
dieser Lyrik? Was
war überhaupt das
Neue an den
Gedichten der
Fremdartigen? Was
hat das breite
Publikum an ihnen so
interessiert,
bewegt, amüsiert
oder aufgebracht?
Orhan Veli nannte
die neuen Kriterien
in seinem Vorwort:
Die strike Ablehnung
von Reim, Metrum,
Symbolen und
Verschlüsselungen,
Metaphern,
Vergleichen und
harmonischer
Musikalität, kurzum,
die Ablehnung alles
dessen, was das
symbolisch-lyrische
Gedicht bis dahin
ausgemacht hatte.
Orhan Veli zufolge
hätten die alten
Dichter Reim und
Metrum verwendet,
damir man ihre
Gedichte leichter
auswendig lernen und
im Gedächtnis
behalten könne. Die
alten Mittel würden
als poetische
Techniken und
Figuren im heutigen
Menschen keine
Be-und Verwunderung
mehr hervorrufen.
Orhan Veli zufolge
sind Reim und Metrum
Mittel aus der
Primitivzeit des
Gedichts. Wenn man
an einem Gedicht so
etwas wie "Harmonie"
schätzt, ist weder
Reim, noch Metrum
die Ursache dieser
Harmonie. Die
Harmonie im Gedicht
ist auch ohne Reim
und Metrum bzw.
trotz Reim und
Metrum vorhanden.
Wenn man Reim und
Metrum auch einmal
als Vorschrift
annimmt, so
beherrschen und
bestimmen sie nicht
nur die Gedanken und
Empfindungen des
Dichters, sondern
wirken gleichsam auf
die Form der Sprache
verändernd ein, was
die naiven
Absonderlichkeiten
in der gebundenen
Rede zur Folge hat.
Orhan Velis
Vorstellungen vom
Gedicht schockierten
die Verfechter und
Vertreter des
althergebrachten
Gedicht-Verständnisses,
für die ein Gedicht
schon schlecht war,
wenn es der
Umgangssprache zu
nahe kam. Orhan Veli
sieht die Ursache
dieses
Gedicht-Verständnisses
in den Formalien wie
Reim und Metrum.
Daher wird dieses
Verständnis, Orhan
Veli zufolge, von
dem Gedicht, das
sein eigentliches
Flußbett sucht,
immer befremdet und
es ablehnen.
In der Tat war der
Überraschungseffekt
der ungewohnten, ja
fremdartigen
Gedichte Orhan Velis
auf den Leser sehr
groß. Doch das
führte nicht zu
einer Ablehnung, wie
bei manchen
Literaten und
Kritikern, sondern
zu einem Mitspielen
der Leser. So übten
Orhan Veli und seine
Freunde fortan nicht
nur auf die jungen,
angehenden Dichter
einen unübersehbaren
Einfluß aus, sondern
auch auf das breite
Leserpublikum.
Die neue, immer
wieder nachgeahmte
Textform bestand aus
vier, fünf kurzen
Zeilen, die auf eine
Art Schlußpointe
ausgerichtet waren.
Sie zeichnet sich
aus durch
Textknappheit und
überraschende
Schlagfertigkeit.
An den überlieferten
Formen findet Orhan
Veli nichts Schönes
mehr. Metaphern und
Vergleiche sind ihm
ein Zwang, die Dinge
anders zu sehen, als
sie sind.
<<Wer dies macht,
wird nicht seltsam
gefunden; es wird
ihm keinerlei
Unnatürlichhkeit
vorgehalten. Dagegen
wird ihm keinerlei
Unnatürlichkeit
vorgehalten. Dagegen
wird derjenige, der
Vergleiche und
Metaphern meidet,
das, was er sieht,
mit den Worten
ausdrückt, die alle
gebrauchen, vom
heutigen
Intellektuellen
fremdartig
empfunden.>>
Ein weiteres
konstant gebliebenes
Kriterium des
überlieferten
Gedichts ist für
Orhan Veli, daß es
<<den Geschmack der
herrschenden Klassen
ansprach>>. Die
Menschen der
herrschenden Klassen
brauchten nicht zu
arbeiten, um zu
leben. Und das
Gedicht, welches
diese Menschen
vertrat bzw. für sie
gemacht wurde,
erreichte, wie Orhan
Veli lakonisch
feststellt, eine
Vollkommenheit, die
sie nicht
verdienten. Das neue
Gedicht würde sich
nicht mehr auf die
Vorstellungen dieser
Minderheit stützen,
sondern es wird die
Mehrheit ansprechen.
Die Menschen, die
heute die Welt
bevölkerten, würden
unaufhörlich um ihr
Recht zu leben
ringen. Wie alles,
ist auch das Gedicht
ihr gutes Recht.
Dieses Gedicht läßt
sich aber nicht nit
den Mitteln des
alten Gedichts
erreichen:
<<Unser Problem ist
nicht die
Verteidigung der
Bedürfnisse einer
Klasse, sondern die
Suche nach einer
Ästhetik der
Mehrheit. Diese
Ästhetik gilt es
durchzusetzen. Es
genügt nicht, neue
Lehren in alte
Formen zu zwängen.
Wir müssen alles
wegwerfen, was uns
die alte Literatur
gebracht hat, die
unsere Ästhetik und
unsere Absichten bis
heute bestimmt. Wenn
das möglich wäre, so
müßten wir sogar die
vorgeprägte Sprache
abschaffen, die uns
zwingt, beim Dichten
mit den alten
Wörtern zu denken.>>
Das bedeutet ein
ganz neues
Verhältnis zur
Sprache, eine
weitgehende
Reduktion der
Sprache im Gedicht.
Nicht nur äußerlich,
umfangmäßig, sondern
auch semantisch: Die
Wörter wurden vom
Ballast des
konventionellen
Bedeutungshofs
befreit, auf ihre
eigentlichen,
ursprünglichen
Bedeutungen
reduziert oder
zurückgeführt. Sie
bedeuten bei Veli
nichts anderes als
sich selbst. Die
Folge ist eine Art
Versachlichung und
materielle
Konkretisierung der
sprache. Dadurch,
daß sie aber den
gewohnten
konventionellen
Bedeutungshof
ablegt, ist der
Leser bei der ersten
Begegnung mit dieser
Sprache überrascht,
verdutzt, ja sogar
schockiert. Das
Gewohnte, das
Selbstverständliche
- zugleich das
Wirkliche also -
wird im Brechtschen
Sinne, doch oft
lapidar humorvoll,
verfremdet.
Es entsteht nach
Orhan Velis
Auffassung keine
Kunst, wenn die
Bauelemente in dem
aus ihnen
bestehenden Gebilde
keinen anderen Reiz,
keine andere
Schönheit als ihre
eigene entstehen
lassen. Damit
opponiert er gegen
das Lyrische im
Gedicht, das ganz
bestimmte,
auserwählte, schöne
Wörter und Ausdrücke
voraussetzt. Gerade
sie aber stellen als
Bausteine fürs
Gedicht keinen
Gewinn dar, weil sie
ihren vorgeprägten
Gestus haben und
auch im Gedicht nur
damit als einzelne
Steine glänzen,
nicht jedoch zu
einem Ganzen mit
eigenem Reiz, mit
eigener Schönheit
zusammenwachsen. So
muß das neue Gebilde
als ein abstraktes,
aus vielen auch im
Gebilde für sich
existierenden, für
sich glänzenden
Teilchen bleiben.
Der <<Iyrische>>
Gestus dieser Wörter
hat den abstrakten
lyrischen Gestus des
Gedichts zur Folge.
Der Dichter muß sich
also von solchem
Wortschatz befreien,
wenn er nicht vom
glatten,
abgegriffenen
Lyrischen gefangen
genommen werden
will, Orhan Velis
Engagement für eine
neue Sprache im
Gedicht folgt aus
dieser Überlegung.
So bringt er, wohl
zum ersten Mal im
türkischen Gedicht,
von solchem
verpönten lyrischen
Gestus vollkommen
freie Wörter wie
<<Hühnerauge>> oder
<<Süleyman Efendi>>
in das neue Gedicht.
Wir erfahren die
Gedichte Orhan
Velis, als seien sie
die ersten Gebilde,
die Urformen der
lyrischen Gattung;
Unvermittelt und
ursprünglich ist
ihre Wirkung auf den
Leser. Diese Form
korrespondiert mit
der Bereitschaft des
Menschen Orhan Veli,
die Welt immer
wieder <<Urform>> zu
erfahren, auch die
beiläufigsten
Einzelheiten des
Lebens und der Welt
wie ein Wunder zu
erleben - zum
Beispiel den
Sonnenaufgang zu
beobachten, als
nähme er ihn zum
ersten Mal im Leben
wahr.
Für Orhan Veli
entsteht die Welt
jeden Tag von neuem.
Sein Weltbild
vermittelt kreative
Unruhe, ein
ständiges Werden.
Doch die Fühler des
Dichters empfangen
die einzelnen
Schritte als ständig
brodelnde, lärmende
Neuentstehung.
Freunde bereiten
auch die einfachsten
Dinge des Lebens.
Diese Lebensfreude
trotz materieller
Not und Entbehrungen
läßt nichts, aber
gar nichts im Leben
des Menschen zur
Routine werden.
Velis Gedichte sind
von humorvoller
Hoffnung, ja sogar
von Illusionen
getragen - bewußten,
konkreten
Illusionen. Wenn die
einfachsten
Begebenheiten des
Lebens als Wunder
erlebt und erfahren
werden, sind auch
die Illusionen nur
auf profane Dinge
ausgerichtet:
(Illusion)
Die Sprache Velis
ist unmittelbar,
nüchtern, aber auch
plastisch und
gestisch. Sie ist
jedem zugänglich.
Der bewußt spontane
Sprachgestus
kennzeichnet das
Gedicht als ein
künstlerisches
Gebilde und grenzt
es von anderen
Kunstgattungen wie
Musik und Malerei
deutlich ab. Orhan
Veli rügt die
musikalischen,
malerischen und
sonstigen
gattungsfremden
Elemente im Gedicht
als <<nebensächliche
Clownerien>>. Das
Gedicht ist ein
sprachlies Gebilde.
Es kommt dabei auf
den sprachlichen
Sinn des Ganzen als
Einheit an. Damit
wirft er auch das
Versverständnis über
Bord.
Ontologisch wird das
Gedicht auf sich
selbst reduziert.
Einfachheit - ein
Bezug Velis zur
tradionsreichen
türkischen
Volkspoeseie -,
Spontaneität und So-
oder Selbstsein sind
die hervorstechenden
Kriterien dieser
<<Fremdartigen>>
Lyrik. Sie versteht
sich im Sinne der
überlieferten
Begriffsbestimmung
als <<nicht
lyrisch>>, sondern
vielmehr
umgangssprachlich,
kühn, nüchtern,
trocken und naiv
humoristisch. Humor
ist überhaupt das
Element, ohne das
Orhan Veli fast in
keinem seiner
Gedichte auskommt.
Das Fremdartige wird
zum Vertrauten
Die zweite Auflage
des Buches Garip
(1945) enthielt nur
die Gedichte Orhan
Velis und ein
zweites Vorwort
neben dem alten, das
die überspitzten
Angriffe gegen alles
Alte und
Überlieferte etwas
abschwächt und jetzt
eine gewisse
Sicherheit und
Überlegenheit des
selbst Etablierten
ausströmt. Die
<<Lyrik der
Fremdartigen>>
erscheint nun als
eine notwendige
Anknüpfung an die
Tradition. Die
unversöhnlichen
Angriffe des ersten
Vorworts stellen
sich nunmehr nicht
so unversöhnlich
dar. Die fremdartige
Dichtung hatte
binner weniger Jahre
einen
durchgreifenden
Erfolg erzielt und
war inzwischen zu
einer breiten
Bewegung geworden.
<<Wenn ich über den
Begriff des
Fremdartigen im
Gedicht heute
schreiben sollte,
würde ich gewiß
nicht dieselben
Sachen schreiben.>>
In den fünf Jahren,
die inzwischen
vergangen waren, war
auch Orhan Veli
nicht
stehengeblieben.
<<Wozu hätte ich
dann diese fünf
Jahre gelebt,>>
fragt er rhetorisch,
<<wenn ich auch
heute dasselbe
geschriben hätte?>>
Seine Gedichte waren
inzwischen auch
nicht mehr die
gleichen. Sie
gewannen auch der
neuen,
<<unpoetischen>>
Sprache Tiefen ab,
die in der Psyche
des Individuums
lagen. Nunmehr waren
für Orhan Veli
Gesellschaftliches
und Individuelles,
Materielles und
Psychisches nicht
voneinander getrennt
zu denken.
Jetzt konnte in
Orhan Velis
dichterischem
Schaffen auch eine
neue Phase
eintreten, die den
Errungenschaften der
tradierten lyrischen
Redeweise nicht mehr
ganz den Rücken
kehrte, sondern sich
ihrer Stimmungslage
bediente. Vor allem
griff er auf
Elemente der
türkischen
Volkspoesie zurück.
Die Gedichte dieser
Phase sind heute für
manch einen
traditionsbewußten
Kritiker seine
besten. Es handelt
sich dabei um keinen
Bruch mit den
Kriterien der
fremdartigen Lyrik
und ebensowenig um
eine totale
Verwandlung der
lyrischen
Sprechweise.
Vielmehr findet sich
in diesen Gedichten
eine leichte
Abschwächung der
Nüchternheit und
Spontaneität. Eines
davon handelt von
der Bosporus-Stadt
Istanbul, die seit
Jahrhunderten die
Dichter anregt.
Orhan Velis lyrische
Eindrücke gehören zu
den schönsten von
dieser Stadt.
Collageartig werden
Versatzstücke
aneinandergereiht
und eingebunden
durch die
Wiederholung der
Schlußzeile (Ich
höre Istanbul).
Bei dieser
poetischen
Sprechlage verweilt
Orhan Veli nicht
lange. Kurz vor
seinem Tode mit erst
36 Jahren gibt der
Frühvollendete ein
Literaturblatt mit
dem Titel Blatt
(Yaprak) heraus,
dessen Beiträge er
meist selber
verfaßt. In den nur
29 Nummern des
Blattes
veröffentlicht Veli
seine neuesten
Gedichte, die nicht
nur mit einer neuen
Tonlage aufwarten,
sondern vor allem
durch Zuwendung zu
sozialen Inhalten
gekennzeichnet sind.
Angelegt war dies
jedoch bereits in
den frühen
Gedichten. Denn im
thematischen
Mittelpunkt der
fremdartigen
Gedichte stand von
Anfang an der
einfache, kleine
Mann von der Straße
mit all seinen
kleinen oder großen
Sorgen und Freuden.
In der weiteren
Entwicklung der
Garip-Lyrik hat sich
dieses subjektive
Ich mehr und mehr zu
einem
gesellschaftlichen
Ich gewandelt. Zwei
Grundtendenzen
dieser Entwicklung
lassen sich
erkennen: In der
Thematik der
Gedichte die
zunehmende
Vergesellschaftlichung
und das
sozialkritische
Engagement; in der
Form die zunehmende
Verdinglichung der
Sprache. Mit innerer
Konsequenz führt
seine Entwicklung zu
Gedichten wie <<Das
Gedicht mit dem
Schwanz>>, <<Für
euch>>,
<<Kostenlos>> u.a.
Yüksel Pazarkaya,
Stuttgart 1985
<<
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